Stellt dir mal vor, du bist Sänger. Oder Sängerin. Je nachdem.
Und jetzt stell dir noch vor, du bist in diesem Moment mitten am Höhepunkt des Konzertes deiner Band. Laute Musik, heiße Lichter, noch heißere Jungs und Girls vor der Bühne und die Hütte ist absolut ausverkauft. Du bist vom Mikrofon ein paar Schritte zurückgetreten, in Richtung der Base-Drum des Schlagzeuges, weil du genau jetzt, nach der Bridge eures regionalen Hitsongs: „FML“, Platz machen musst – für deinen Gitarristen.
Er wirft dir einen herausfordernden Blick zu, als er an dir vorbeigeht, als wolle er sagen: “Jetzt pass mal genau auf“ und sinkt vorne an der Bühnenkante in die Knie, während er die ersten, kreischenden Töne auf seinem Stromruder dahin shreddert. Das Letzte was du wahrnimmst, bevor du deine Augen überwältigt vom Moment schließt, ist das herumwirbeln seiner Haare, im Gegenwind des Ventilators, in den ihr als Band eure letzten Einnahmen investiert habt. Augen zu. Geil…
Getragen von der Musik machst du, intuitiv zum richtigen Zeitpunkt, deine Augen auf. Du gehst langsam wieder nach vorne zu deinem Mikrofon und blickst in die Menge. Und dann… dann siehst du genau das, was du am Titelbild dieses Blogs sehen kannst. Sieh es dir an. Ganz genau.
Jetzt!
Den Blickwinkel den du genau jetzt hast, in diesen Sekunden auf der Bühne, den hat niemand. Von 7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten sieht keiner das, was du jetzt siehst. Und das ist nicht nur jetzt so, sondern immer! Nur du kannst die Welt aus dieser Perspektive betrachten. Jeder andere sieht die Welt auch, aber eben anders. Aus anderen Richtungen, in anderen Farben, in anderen Situationen und sogar in anderen Stimmungen. Selbst für deine Bandkollegen, sieht alles in diesem Moment, den sie sich mit dir auf der Bühne teilen, ganz anders aus. Der Blickwinkel ist eben immer einmalig. Und nur du kennst deinen!
Und weil der Blickwinkel etwas Einmaliges ist, spielt er auch beim Songwriting eine absolut zentrale Rolle. Er verändert nämlich alles. Jede Geschichte und jedes Erlebnis verändert sich damit. Komplett!
Lehn dich zurück. Nimm dir 06:15 und hör eine Live-Performance eines internationalen Super-Hits von Whitney Houston an. Danach wirst du verstehen worauf ich wirklich hinaus will.
Alles klar. Hätten wir das auch besprochen. Super Sängerin und spitzen Titel, aber darauf will ich nicht hinaus.
Dieses Lied ist der Soundtrack zum Hollywood-Blockbuster: “The Bodyguard“, wie du bestimmt weißt. Ein Film über einen Star, einen Bodyguard, einen Stalker, viele Fans und unzählige Nebenrollen, wie etwa die Familie ebendieses Stars! Dieser Song ist aus dem Blickwinkel des verliebten Stars erzählt. Soweit so gut.
So richtig interessant wird der Song, aus Sicht eines Songwriters aber erst, wenn man sich beginnt zu fragen:
„Wie hätte das Lied wohl geklungen, wenn die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel gesungen worden wäre? Hätte der Stalker auch eine Ballade daraus gemacht? Und wie hätte der Text ausgesehen, wenn ihn der Bodyguard geschrieben hätte? Oder “Nicki“, die so eifersüchtig auf den Ruhm ihrer Schwester war?“
Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass wir jedes Mal ein neues Lied erhalten hätten. Genau aus diesem Grund, ist das Berücksichtigen von Blickwinkeln eine absolute Spitzenmethode beim Schreiben. Es hilft ungemein wenn es darum geht, dass auszudrücken, was der Songwriter am ehesten transportieren möchte. Bleiben wir doch gleich beim „Stalking“ und denkt mal über diese beiden entgegengesetzten Perspektiven – aus bekannten Popsongs – nach:
- “Every breath you take” – The Police
- „Somebody’s watching me“ – Rockwell
Krass, oder?
In diesem Zusammenhang fällt mir auch noch der Film “Acht Blickwinkel“ ein. Hier wird tatsächlich die gesamte Geschichte dieses Hollywoodstreifens, aus den Blickwinkeln von acht verschiedenen Personen erzählt. Die Geschichte ist immer dieselbe, aber jeder erlebt sie eben anders. Der Film ist tatsächlich empfehlenswert, vor allem um diesen Umstand auch als Songwriter bildlich zu verinnerlichen:
Haltet mich nicht für verrückt, aber es gibt beim Blickwinkel nur anatomische Grenzen, aber keine psychologischen! Sogar ein Weltstar kann sich alleine fühlen. Ich selbst habe vor kurzem übrigens ein Lied für einen Künstler geschrieben, dass aus der Perspektive eines alten Klavieres geschrieben ist. Und dieses Lied ist ein richtig tolles Liebeslied geworden…
…zumindest aus meiner Sicht.
Keep on Songwriting,
Emi